Der Spiegel befragte den Bundesgesundheitsminister zum Thema Pflege. Jens Spahn antwortet auf einige Fragen. Inwiefern er das umsetzen kann ist fraglich, da im Koalitionsvertrag diese Vorgehensweise nicht vereinbart ist. Wichtig aber ist, dass er offensichtlich zu verstehen gibt, zu wissen, wo der Schuh der Pflege drückt und hier wurde erstmalig klar gemacht, dass die Politik die aktuelle Situation mit verschuldet hat. Bleibt zu hoffen, dass die Pflegetrümmer langsam aufgeräumt werden können. Immerhin übernimmt Jens Spahn die Verantwortung für die durch die Politik verursachten Fehler.

Antworten auf die Fragen vom Magazin „Der Spiegel“
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zum Sofortprogramm für die Pflege und dem Versichertenentlastungsgesetz

Der Spiegel: Herr Spahn, wie fühlt man sich als größter Provokateur der neuen Bundesregierung?

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: So sehe ich mich nicht. Ich mache meine Arbeit als Gesundheitsminister. Ich will Probleme lösen, deshalb diskutiere ich. Das ist keine Provokation, sondern eine Selbstverständlichkeit.

In Ihren ersten Amtstagen sind Sie mit Einlassungen zu Hartz IV und dem Islam aufgefallen. Jetzt präsentieren Sie in ihrem ersten Gesetzentwurf Vorschläge, die in der Koalition nicht abgesprochen sind. Und da soll die SPD sich nicht provoziert fühlen?

Diskutieren gehört zur Demokratie genau wie das Ringen um die richtige Lösung. Wenn es ein objektives Problem gibt, muss man darüber debattieren. Auch wenn es nicht im Koalitionsvertrag steht.

Sie wollen die gesetzlichen Kassen zwingen, ihren Beitragssatz zu senken, wenn sie gewisse Reserven angespart haben. Dagegen sperrt sich die SPD. Wo liegt das Problem, wenn eine Krankenkasse Überschüsse macht?

Dass Krankenkassen Finanzreserven haben, ist kein Problem, sondern gewollt. Gesetzlich vorgeschrieben sind dafür allerdings Grenzen. Einige Krankenkassen halten sich aber nicht daran und horten übermäßig Rücklagen. Das kann ich als Gesundheitsminister nicht akzeptieren. Schon aus Prinzip nicht. Denn es ist das Geld der Beitragszahler und nicht der Krankenkassen. Und wenn Gesetze nicht eingehalten werden, müssen wir darüber nachdenken, wie wir dem Recht wieder Geltung verschaffen.

Die SPD und sogar der von Ihnen berufene Pflegebeauftragte der Bundesregierung fänden es klüger, nicht etwa die Zusatzbeiträge zu senken, sondern das Geld für wichtigere Projekte einzusetzen – vor allem für die Pflege.

Ich diskutiere gern, aber so einfach ist es nicht. Aus den Rücklagen einzelner Kassen mit großen Finanzreserven können wir keine Pflegeprogramme finanzieren. Dafür müsste man die allgemeinen Reserven der Krankenversicherung einsetzen, die im Gesundheitsfonds liegen. Daher bin ich sicher: Für Verbesserungen bei der Pflege findet sich das nötige Geld, auch wenn einzelne Kassen ihre Zusatzbeiträge senken.

Kaum ein Thema bewegt die Menschen mehr als der Pflegenotstand und die Sorge, in Kliniken oder Altersheimen nicht mehr gut betreut zu werden, weil die Fachkräfte chronisch überlastet sind. Ein Armutszeugnis für die Gesundheitspolitik.

Es gibt große Probleme in der Pflege – unbestritten. In Kliniken und Heimen hat es in den vergangenen Jahren eine wahnsinnige Verdichtung der Arbeit gegeben. Viele Pflegekräfte berichten mir, dass sie zu oft ihrem eigenen Anspruch nicht mehr gerecht werden können, weil sie keine Zeit für die Patienten und Pflegebedürftigen haben. In der letzten Legislaturperiode ist viel für die Pflegebedürftigen zu Hause und deren Angehörigen getan worden. Dafür bin ich meinem Amtsvorgänger Hermann Gröhe sehr dankbar. Jetzt geht es aber darum, die Pflegekräfte in Kliniken und Heimen zu unterstützen. Hier beobachte ich eine gefährliche Vertrauenskrise. Viele Pflegende glauben nicht daran, dass wir Politiker wissen, was los ist und dass wir die Kraft haben, etwas zu ändern.

Was wollen Sie gegen diese Vertrauenskrise unternehmen?

Ich will die fatale Spirale durchbrechen, die es in der Pflege derzeit gibt: Die Belastung steigt, Kollegen steigen frustriert oder krank aus dem Beruf aus, die Belastung steigt noch weiter. Wir können den Pflegeberuf nur attraktiver machen, indem wir mehr Stellen schaffen und besetzen. Nur so können wir Pflegekräfte bewegen, wieder in den Beruf zurückzukehren oder von Teilzeit auf Vollzeit zu wechseln. Ich arbeite an einem Gesamtpaket, um Pflege wieder attraktiver zu machen.

Die Politik hat die Misere in den Kliniken doch mitverschuldet. Weil jeder Krankenhausfall heute mit einer Pauschale bezahlt wird, können die Kliniken mehr Gewinn machen, wenn sie möglichst wenig Pflegepersonal einsetzen.

Genau das werden wir ändern. Allerdings ist das kompliziert und kann dauern. Ich will daher für die Übergangsphase schon jetzt ein Sofortprogramm starten: Jede neue Pflegestelle, die Krankenhäuser einrichten und besetzen, werden die Krankenkassen künftig komplett bezahlen. Damit nehmen wir den Kliniken die Sorge, dass sie mehr Pflege zu viel kostet.

Schon heute zählen die Kliniken über 10.000 unbesetzte Pflegestellen. Wo sollen sie die Bewerber hernehmen?

Es geht um einen ersten Schritt. Je mehr Stellen besetzt werden, desto mehr sinkt die Belastung, desto höher wird die Attraktivität des Pflegeberufes. Ich will neues Personal gewinnen und Pflegekräfte, die aus Enttäuschung ausgestiegen sind, zurück gewinnen. Wenn es am Ende mehr als 10000 neue Pflegekräfte würden, wäre mir das auch recht. Es gibt Kliniken, die sind sehr gut besetzt. Und es gibt andere, die haben handfeste Personalprobleme.

Warum gibt es dann keine festen Standards für die Personalausstattung in allen Klinik-Abteilungen?

Die führen wir doch gerade ein. Wir haben die Krankenhäuser und Krankenkassen beauftragt, für sensible Bereiche in Kliniken wie zum Beispiel für kardiologische Abteilungen Vorschläge für Personaluntergrenzen auszuhandeln. Wenn sie das nicht schaffen, muss der Gesetzgeber selbst Standards vorgeben. Ich wünsche mir ein Regelwerk, das Sanktionen vorsieht, wenn Untergrenzen fortgesetzt nicht eingehalten werden. Vor allem muss es aber einfach handhabbar sein und darf nicht zu Frust durch bürokratische Detailverliebtheit führen.

In den Altenheimen ist der Personalmangel noch dramatischer als in den Kliniken. Die Bundesagentur für Arbeit zählt derzeit fast 23.000 unbesetzte Stellen. Der Koalitionsvertrag verspricht in einem Sofortprogramm aber nur 8000 zusätzliche Jobs. Das ist ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Das Besondere ist ja, dass wir diese neuen Stellen komplett aus der Sozialversicherung bezahlen, auf die Heimbewohner kommen damit keine höheren Kosten zu. Aber ich muss zugeben, dass ich bis heute nicht nachvollziehen kann, woher die Zahl 8000 aus den Koalitionsverhandlungen kommt. Sie kann nur ein erster Schritt sein. Mein Ziel ist, dass in jeder der 13.000 stationären Altenpflegeinrichtungen in Deutschland zusätzliches Personal ankommt. Das muss im Pflege-Sofortprogramm geregelt werden. Dazu will ich im Mai einen Entwurf vorlegen, den das Kabinett noch vor der Sommerpause beschließen könnte. Wir haben in der Pflege nicht mehr viel Zeit.

Das heißt, Sie fordern erneut mehr, als im Koalitionsvertrag steht.

Ich bin jetzt seit fünf Wochen im Amt. Und aus den Gesprächen dieser Zeit weiß ich, dass in der Pflege ein ganzer Berufsstand in der Krise steckt. Wir müssen gegensteuern. Entschieden und schnell. So will es auch der Koalitionsvertrag.

Mal ehrlich. Kann man die Probleme lösen, ohne irgendwann über höhere Pflegebeiträge nachzudenken?

Derzeit läuft die Konjunktur gut, aber das wird nicht immer so weitergehen. Und die Ausgaben steigen jährlich. Also werden wir in der Pflege schauen müssen, wie lange wir mit dem Geld hinkommen.

Kann man den Menschen überhaupt die Angst vor einem Alter im Pflegeheim nehmen?

Die größte Arbeit in der Pflege wird noch immer von den Angehörigen zu Hause geleistet. Um diese zu entlasten, haben wir in der letzten Legislaturperiode schon viel unternommen. Politik kann und muss in schwieriger Lage helfen, aber sie kann nichts Unmögliches leisten und Schicksalsschläge ungeschehen machen. Und zur Wahrheit gehört auch, dass es Situationen gibt, in denen die Pflege zu Hause im Sinne aller Beteiligten einfach nicht mehr funktioniert. Die Gesellschaft muss lernen, auch das zu akzeptieren. Es geht nicht darum, jemanden wegzugeben. Gerade für Schwerstdemente kann eine Betreuung im Heim im Einzelfall sogar besser ein. Doch die Entscheidung für ein Pflegeheim wird oft mit einem vorschnellen moralischen Urteil versehen.

Sie selbst haben in einer Talkshow gesagt, dass Sie Ihren Beruf nicht aufgeben würden, um Ihre Eltern zu pflegen.

Ja. Aber das heißt ja nicht, dass ich dann nicht für meine Eltern da sein würde. Natürlich will ich so oft wie möglich bei ihnen sein und helfen – so wie sie mich immer unterstützt haben. Aber ich kann mir nicht vorstellen, meinen Beruf aufzugeben. Nach der Talkshow habe ich sehr viele Reaktionen bekommen. Zunächst die erwartbare Empörung. Aber dann gab es auch viele nachdenkliche Rückmeldungen von Menschen, die mir geschrieben haben, dass sie am Frühstückstisch jetzt zum ersten Mal mit der Familie über die Pflege und ihre Erwartungen gesprochen haben. Und das ist gut.

Und was haben Ihre Eltern gesagt?

Die waren nicht überrascht. Ich habe zwei Geschwister, meine Eltern erwarten von keinem von uns, dass er den Rest seines Lebens für sie aufgeben würde. Wir haben über das Thema schon früher gesprochen.

Es gibt immer mehr Familien wie Ihre, in denen die Kinder weit entfernt von den alternden Eltern wohnen. Was heißt das für die Pflegepolitik?

Das können wir nur teilweise ausgleichen. Die gesetzlichen Pflegekassen bieten professionelle Betreuungsdienste und Entlastungsangebote, es gibt die ambulanten Pflegedienste, die Tagespflege oder die stationären Heime. Aber keine Pflegeversicherung der Welt kann eine Familie ersetzen. Der größte Kampf, den diese Gesellschaft einmal wird führen müssen, ist der gegen die Einsamkeit. Nicht nur, aber vor allem im Alter.

Das Interview führten Michael Sauga und Cornelia Schmergal.

28. April 2018

 

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