Der Pflegetarifzwang nimmt seinen Lauf. Die Verbände prüfen die Möglichkeiten von Sammelklagen.

Der Hintergrund ist der nun festgelegte Tarif der aktuellen Bundesregierung, wonach ab nächstem Jahr alle Pflegeeinrichtungen sich tariflich anpassen müssen, ohne jegliche Refinanzierung. In Niedersachsen startet dazu die Protestbewegung „Pflege ist kein Spielzeug“. Dort geht man sogar einen Schritt weiter und behauptet, die Pflege wäre überfinanziert! Sollte sich nichts an dem Gesetz ändern, wird es im nächsten Jahr einigen Einrichtungen an den Kragen gehen. Viele Einrichtungen werden von der Bildfläche verschwinden. Die Bundesregierung und auch Jens Spahn scheinen in keiner Weise nachbessern zu wollen. Der BDA hat dazu ein Statement abgegeben.

Die Pflege lässt es wieder einmal mit sich machen.

Hier das Statement:

Keinen Tarifzwang in der Pflege und
keine neuen Leistungen ohne nachhaltige
Finanzierung
Stellungnahme zu den Änderungsanträgen für den Entwurf eines Gesetzes
zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz – GVWG) sowie zu den Anträgen der Fraktion DIE LINKE „Solidarische Pflegevollversicherung durchsetzen“ (BTDrs. 19/24448) und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Die Pflegeversicherung verlässlich und solidarisch gestalten – Die doppelte Pflegegarantie umsetzen“
(BT-Drs. 19/14827)
4. Juni 2021
Zusammenfassung
Der geplante Tarifzwang für Pflegeeinrichtungen ist ein Angriff auf die grundgesetzlich geschützte Koalitionsfreiheit, für den es keine Rechtfertigung gibt: Fachkräfte in Alten- und Pflegeheimen verdienen im Durchschnitt sogar etwas mehr als Fachkräfte in der Gesamtwirtschaft.
Die Gehaltssituation für Pflegekräfte hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert, die Entgelte für Fachkräfte in der Altenpflege sind stärker als in allen anderen Branchen gestiegen –
und das ganz ohne lohnpolitische Bevormundung durch den Staat.
Die geplanten zusätzlichen Ausgaben, v. a. durch höhere Gehälter und die Deckelung der Eigenanteile sind nicht nachhaltig finanziert. Die vorgesehene Gegenfinanzierung ist völlig unzureichend. Schon im kommenden Jahr droht daher der Pflegeversicherung eine Finanzierungslücke in Höhe von rund 2 Mrd. €. Dabei entstehen die Mehraufwendungen für höhere Gehälter
erst ab September kommenden Jahres. Daher ist schon jetzt absehbar, dass ab 2023 eine noch
viel größere Finanzierungslücke in der Pflegeversicherung klaffen wird, zumal neben den teuren
Leistungsausweitungen der demografische Wandel die Pflegeversicherung immer weiter belasten wird.
Mit dem für 2022 erhöhten Bundeszuschuss zur gesetzlichen Krankenversicherung wird der Zusatzbeitrag für das kommende Jahr auf 1,3 % stabilisiert. Damit wird zumindest für Eltern und
ihre Arbeitgeber im kommenden Jahr die 40%-Grenze bei den Sozialbeiträgen eingehalten
(39,95%). Dies ist einerseits ein richtiges und wichtiges Signal, weil sich die Koalition damit dazu
bekennt, auch nach dem Auslaufen der beschlossenen Sozialgarantie zum Ende des Jahres
weiter am 40%-Ziel festzuhalten. Andererseits fehlt es aber weite an den erforderlichen Reformschritten, damit die notwendige weitere Begrenzung der Sozialbeitragslast auch nach 2022 noch
gelingt.
Stellungnahme zu Änderungsanträgen für den Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der
Gesundheitsversorgung (GVWG – Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz)
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Im Einzelnen
Keine tarifpolitische Bevormundung in der Pflege
Nach dem gescheiterten Vorstoß, die Altenpflegebranche einem politisch motivierten allgemeinverbindlichen Minderheiten-Tarifvertrag zu unterwerfen, folgt jetzt ein neuer rechtlich zweifelhafter Versuch, dieser Branche staatliche Lohnvorgaben aufzuzwingen.
Dass es einer solchen lohnpolitischen Bevormundung nicht bedarf, um gute Arbeitsbedingungen
in der Altenpflegebranche zu setzen, zeigt die Entwicklung der Pflegeentgelte. Die Einkommenssituation für Pflegekräfte hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert, ohne dass der Staat
eingegriffen hat. Die Entgelte für Fachkräfte in der Altenpflege sind allein im Zeitraum 2012 bis
2019 um gut 28 % und damit stärker als in allen anderen Branchen gestiegen (Quellen: Entgeltatlas der BA; IAB, 2020). Und sie sind seitdem weiter gestiegen: Der mittlere Bruttomonatsverdienst von Pflegefachkräften lag 2020 bei 3.291 € in Altenheimen und Alten- und Behindertenwohnheimen bzw. bei 3.363 € in Pflegeheimen (Statistisches Bundesamt). Damit verdienen Pflegefachkräfte inzwischen sogar etwas mehr als Fachkräfte in der Gesamtwirtschaft (3.286 €, Statistisches Bundesamt). In der Pflegebranche gibt es zudem seit 12 Jahren einen verbindlichen
Pflege-Mindestlohn, der im Konsens zwischen den Arbeitgebern und Beschäftigten der gesamten Branche festgelegt wird. Er liegt mittlerweile mehr als 20 % über dem gesetzlichen Mindestlohn. Ab September 2021 wird selbst eine Pflegehilfskraft ohne Ausbildung mindestens 12 € pro
Stunde verdienen.
Pflegeeinrichtungen werden durch die geplanten Vorgaben gezwungen, eine vom Staat vorgegebene Tarifentlohnung zu zahlen. Ein gesetzlicher Zwang zu einer tarifvertraglichen Vergütung
begegnet tiefgreifenden verfassungs- und europarechtlichen Bedenken, denn er verletzt die
grundgesetzlich geschützte Koalitionsfreiheit, die Freiheit der Berufsausübung sowie die europäische Dienstleistungsfreiheit. Eine Rechtfertigung für diesen erheblichen Eingriff ist nicht zu
erkennen. Soweit es darum geht, generelle Lohnuntergrenzen zu ziehen, haben Gesetzgeber
und das Bundesarbeitsministerium mit dem durch Verordnung festgelegten Pflegemindestlohn
und dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz bereits weitreichenden Schutz der Beschäftigten im
Pflegebereich gewährleistet. Eine sachliche Begründung, warum der Gesetzgeber darüber hinaus zugunsten der Beschäftigten einer besonderen Branche, in der im gesamtwirtschaftlichen
Vergleich nicht unterdurchschnittlich verdient wird, Tarifvergütungen vorschreiben sollte, fehlt.
Insofern schweigt sich auch der Änderungsantrag über die Gründe für eine gesetzlich angeordnete Tarifvergütung der Pflegebranche aus. Der lapidare Verweis auf eine Forderung im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege (S. 23) taugt jedenfalls nicht als verfassungsrechtlich tragfähiger Grund, um einen Eingriff in die Koalitionsfreiheit rechtfertigen zu können.
Im Ergebnis hebeln die Vorgaben zur tariflichen Vergütung nach § 72 Abs. 3a und 3b SGB XI-E
i. V. m. der Deckelungsregelung in § 82c Abs. 2 SGB XI-E jeden Wettbewerb um sowohl attraktive als auch wirtschaftliche Gehaltsstrukturen aus. Die Gehälter werden faktisch nach oben und
nach unten gedeckelt. Zudem werden die Möglichkeiten genommen, durch einen intelligenten
Personaleinsatz die für künftige Investitionen notwendigen Mittel zu erwirtschaften. Dies gilt
ganz besonders, weil auch die Vorgaben für die sonstigen in den Versorgungsverträgen zu regelnden Fragen keinen Raum lassen, um betrieblichen Risiken Rechnung zu tragen. Es ist daher
zu befürchten, dass gerade kleinere, kapitalschwache Anbieter von Pflegeeinrichtungen bei Umsetzung der geplanten Neuregelung aus dem Markt ausscheiden werden. Das aber kann nicht
gewollt sein. Die notwendige Bereitstellung ausreichender Pflegekapazitäten kann nur mit einer
großen Zahl privater Anbieter gewährleistet werden, die heute für über die Hälfte des in Deutschland zur Verfügung stehenden Angebots sorgen.
Stellungnahme zu Änderungsanträgen für den Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der
Gesundheitsversorgung (GVWG – Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz)
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Zusätzliche Ausgaben nicht nachhaltig finanziert
Für die geplanten milliardenschwere Zusatzlasten für die Pflegeversicherung, insbesondere
durch die Finanzierung höherer Gehälter und die Deckelung von Eigenanteilen, fehlt eine nachhaltige Finanzierung. Der geplante Bundeszuschuss in Höhe von 1 Mrd. € sowie die Mehreinnahmen aus der Erhöhung des Zusatzbeitrags für Kinderlose werden jedenfalls nur einen kleinen Teil der Mehrausgaben decken können. Nach Angaben des GKV-Spitzenverbands wird es
daher bereits im kommenden Jahr in der Pflegeversicherung zu einer Finanzierungslücke in
Höhe von rund 2 Mrd. € kommen. Dabei soll die geplante Deckelung der Eigenanteile erst ab 1.
September 2022 und damit nur für vier Monate des kommenden Jahres gelten. Daher ist schon
jetzt absehbar, dass sich ab 2023 ein noch viel größeres Loch in der Pflegeversicherung ergeben wird.
Nicht nachvollziehbar ist, warum nur zugunsten der sozialen Pflegeversicherung eine teilweise
Gegenfinanzierung der jetzt geplanten zusätzlichen Leistungsausgaben durch einen Bundeszuschuss vorgesehen ist, obwohl auch die private Pflegeversicherung und ihre Beitragszahler
diese zusätzlichen Ausgaben finanzieren müssen. Dies ist nicht nur eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung der verschiedenen Anbieter der gesetzlichen Pflegeversicherung, sondern
auch der dort versicherten Beitragszahler.
Bislang geplante, notwendige Maßnahmen zur Entlastung im Pflegebereich fehlen
Auf wichtige und zugleich überfällige Reformmaßnahmen im Pflegebereich wird verzichtet, obwohl sie u. a. auch das Bundesgesundheitsministerium in seinem Arbeitsentwurf für eine Pflegereform vom März für richtig und notwendig erachtet hat:
 Die notwendige Sicherstellung der Übernahme der Investitionskosten von Pflegeeinrichtungen durch die Länder ist anders als noch im Arbeitsentwurf nun nicht mehr vorgesehen. Damit
fehlen 940 Mio. €, die als Zuschuss der Länder vorgesehen waren. Stattdessen sollen allein
die Pflegekassen und damit die Beitragszahler durch die Finanzierung eines Leistungszuschlags zur Begrenzung des Eigenanteils an den pflegebedingten Aufwendungen für die gewollte Entlastung der Pflegebedürftigen sorgen.
 Auch fehlt die ursprünglich vorgesehene Tragung der Rentenversicherungsbeiträge für Pflegepersonen durch den Bund. Eine Finanzierung der Rentenversicherungsbeiträge aus Steuermitteln wäre grundsätzlich richtig gewesen, muss dann aber zur Entlastung der Beitragszahler genutzt werden und nicht für Leistungsausweitungen. Richtig wäre, die für die Finanzierung von Rentenversicherungsbeiträgen durch den Bund benötigten Steuermittel direkt
vom Bund an die Rentenversicherung geleistet werden, so wie der Bund auch direkt an die
Rentenversicherung Steuermittel zur Finanzierung von Beiträgen für Kindererziehende leistet
(§ 177 Abs. 1 SGB VI). Damit würde die Finanzierung versicherungsfremder Leistungen ordnungspolitisch korrekt umgesetzt.
Beide Maßnahmen sind überfällig und müssen daher dringend umgesetzt werden.
Stellungnahme zu Änderungsanträgen für den Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der
Gesundheitsversorgung (GVWG – Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz)
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Problem der langfristigen Finanzierung der Pflege- und Sozialversicherung ungelöst
Mit dem für 2022 erhöhten Bundeszuschuss zur gesetzlichen Krankenversicherung wird der Zusatzbeitrag für das kommende Jahr auf 1,3 % stabilisiert. Damit wird zumindest für Eltern und
ihre Arbeitgeber im kommenden Jahr die 40%-Grenze bei den Sozialbeiträgen eingehalten
(39,95%, für Kinderlose und ihre Arbeitgeber allerdings 40,3%). Dies ist einerseits ein richtiges
und wichtiges Signal, weil sich die Koalition damit dazu bekennt, auch nach dem Auslaufen der
beschlossenen Sozialgarantie zum Ende des Jahres weiter am 40%-Ziel festzuhalten. Andererseits fehlt es aber weiter an den erforderlichen Reformschritten, damit die notwendige weitere
Begrenzung der Sozialbeitragslast auch nach 2022 noch gelingt.
Dabei sind diese Reformen dringend, denn 2023 drohen nach aktuellem Stand in allen vier Sozialversicherungszweigen höhere Beitragssätze:
 Nach der aktuellen Vorausschätzung von Bundesarbeitsministerium und DRV Bund kann der
aktuelle Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung in Höhe von 18,6% nur noch im
kommenden Jahr gehalten werden und wird daher 2023 ansteigen.
 In der Krankenversicherung käme es nach aktuellem Stand zu einem gewaltigen Beitragssatzanstieg, allein schon, weil der jetzt geplante zusätzliche Bundeszuschuss auf das kommende Jahr befristet ist.
 Bei Umsetzung der jetzt geplante Änderungen würde die Finanzierungslücke in der Pflegeversicherung so sehr wachsen, dass sie 2023 nicht mehr aus den noch vorhandenen Rücklagen finanziert werden könnte. Daher käme es auch hier ohne Reform zu einem höheren
Beitragssatz.
 Bei der Bundesagentur für Arbeit ist gesetzlich vorgesehen, dass der Beitragssatz 2023 auf
2,6% steigt.
Mit Blick auf die demografische Entwicklung ist zudem zu erwarten, dass der Druck auf die Beitragssätze nach 2023 noch weiter steigen wird. Umso dringender ist es, dass endlich Maßnahmen für eine nachhaltige Finanzierung der Sozialversicherung auf den Weg gebracht werden
und diese Aufgabe – entgegen wiederholter Ankündigungen auch aus der Bundesregierung –
nicht immer weiter in die Zukunft verschoben wird.
Gerade in der Pflegeversicherung ist die Klärung der langfristigen Finanzierung ungelöst. Seit
2014haben sich die Ausgaben der Pflegeversicherung mehr als verdoppelt! Eine solche explosive Ausgabenentwicklung ist nicht dauerhaft tragfähig. Gerade angesichts des bevorstehenden
Alterungsschubs und der zu erwartenden deutlichen Zunahme der Zahl der Pflegebedürftigen
sind daher gegensteuernde Maßnahmen dringend erforderlich.
Nicht auf Strohfeuereffekte setzen
Zur Sicherstellung einer nachhaltigen Finanzierung der Pflegeversicherung untauglich und sogar gefährlich wäre es, auf Strohfeuereffekte zu setzen. Darauf aber laufen die Vorschläge der
Fraktion DIE LINKE hinaus, nach denen durch die Einbeziehung der gesamten Bevölkerung in
die soziale Pflegeversicherung und die Auflösung des Pflegevorsorgefonds ein kurzfristige Steigerung auf der Einnahmenseite erreicht werden soll.
Stellungnahme zu Änderungsanträgen für den Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der
Gesundheitsversorgung (GVWG – Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz)
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Im Kern unterliegen alle Vorschläge einer Bürgerversicherung, wie sie auch im Antrag von
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemacht werden, dem gleichen Denkfehler: Denn zusätzliche Beitragszahler bedeuten letztlich nicht nur höhere Einnahmen, sondern auch weitere Leistungsbezieher und damit höhere Ausgaben. Im Gegenteil würde die künftige Finanzierung von Pflegeleistungen sogar erschwert, wenn die in der in der privaten Pflegeversicherung gebildete umfangreiche Kapitalreserve jetzt aufgelöst würde, um aktuelle Ausgaben zu finanzieren, weil diese
Mittel dann künftig, wenn die Finanzierbarkeit der Pflegeversicherung aus demografischen
Gründen viel schwerer sein wird, nicht mehr zur Verfügung stünden.
Aus den gleichen Gründen darf auch der Pflegevorsorgefonds jetzt nicht vorzeitig zur Finanzierung aktueller Ausgaben angezapft und damit zweckentfremdet werden. Er soll für jüngere Generationen demografiebedingte Beitragssatzsteigerungen lindern und stünde für dieses Ziel
nicht mehr zur Verfügung, wenn seine Mittel für kurzfristige Mehrausgaben verwendet würden.

Ansprechpartner:
BDA | DIE ARBEITGEBER
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
Abteilung Soziale Sicherung
T +49 30 2033-1600
soziale.sicherung@arbeitgeber.de

Quelle: BDA _ Bundestagsstatement Grüne / Die Linke

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